Pleiten, Pech und Bangen
Streit über Corona-Insolvenzen. Weil in der Pandemie Tausende Firmen ums Überleben rangen, lockerte die Große Koalition das Insolvenzrecht. Bis zuletzt stritt sie über die Rückkehr zu alten Regeln. Was heißt das für die Betroffenen?
In der Coronakrise wurde vieles anders – auch bei Insolvenzen. Die Bundesregierung setzte die Antragspflicht für zahlungsunfähige Unternehmen vorübergehend aus. Wenn Verbände und Unternehmer nun davor warnen, beim Insolvenzrecht wieder zu geordneten Verhältnissen überzugehen, klingt das dramatisch. Der Handelsverband Deutschland (HDE) spricht etwa von einem »steilen Anstieg bei den Insolvenzen im Einzelhandel«.
Der Vorsitzende des Deutschen Reiseverbands, Norbert Fiebig, ist besonders deutlich: »Wenn die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nicht bis Ende des Jahres verlängert wird, waren alle bisher gewährten Hilfen umsonst. Das kann die Politik nicht wollen.« Und die Chefin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga fordert eine Ausnahme bis zum 30. September 2021 für jene Betriebe, die bisher keine staatliche Hilfe erhalten haben.
All diese logisch klingenden Forderungen haben einen Schönheitsfehler: Nachdem die Große Koalition schon in einer frühen Phase der Pandemie die Insolvenzantragspflicht für alle Unternehmen ausgesetzt hatte, gilt seit dem Jahresbeginn wieder, dass Unternehmen, die überschuldet oder zahlungsunfähig sind, dies beim Insolvenzgericht auch anzeigen müssen.
Lediglich für Firmen, bei denen die Auszahlung der seit dem 1. November 2020 vorgesehenen staatlichen Hilfen noch aussteht, gibt es eine Ausnahme. Sie mussten bis Ende April ihre Pleite nicht öffentlich machen, sondern konnten Gläubiger, Lieferanten und Kunden über ihre wirtschaftlich desaströse Lage im Unklaren lassen. Formal ist seit Anfang Mai auch diese Regel ausgelaufen, die SPD kämpfte jedoch noch für eine Verlängerung.
Der Tod Tausender Unternehmen oder das künstliche Überleben von Zombiefirmen?
Doch die Frage, ob die Insolvenzantragspflicht nun endgültig ausgesetzt werden soll, hat sich zu einem Streit zwischen Rechtspolitikern von SPD und Union entwickelt. Im Windschatten der Debatte ums Klimaschutzgesetz und die neuen Freiheiten für Geimpfte beharken sich die Fachpolitiker der Koalitionäre. Sie werfen der Gegenseite den Tod Tausender Unternehmen vor, wenn sie Sozialdemokraten sind, oder das künstliche Überleben von Zombiefirmen, wenn sie von der Union stammen.
In der vergangenen Woche sondierte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), ob die Unionsseite die Aussetzung verlängern würde. Andernfalls drohte der Insolvenzschutz mit Freitag, dem 30. April, auszulaufen. Doch weder das CDU-geführte Bundeswirtschaftsministerium noch die Unionsabgeordneten wollten eine Verlängerung der Ausnahmeregelung. »Angesichts wiederholter Aussetzungen, die die fortschreitende Pandemie seit dem Frühjahr 2020 erforderlich gemacht hat, brauchen die Unternehmen nun wieder mehr Rechtsklarheit«, sagte der rechtspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak, dem »Handelsblatt«.
Justizministerin Lambrecht strich die Segel. Auf SPIEGEL-Anfrage schickte ihr Sprecher einen schlichten Satz: »Das BMJV arbeitet gegenwärtig nicht an einer Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht.« Allerdings versah er diese Botschaft mit dem Zusatz, dass Medienberichten zufolge weiterhin Gespräche zu dem Thema »in den Koalitionsfraktionen« stattfänden. Denn die SPD-Abgeordneten wollten nicht locker lassen. Sie versuchten es bei Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) – wohl vergeblich.
Als der Stichtag 30. April bereits verstrichen war, setzte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, dem Koalitionspartner ein Ultimatum. Bis zum heutigen Dienstagmittag solle sich die Union ultimativ erklären, ob sie bei ihrer Haltung bleibt oder einlenkt. Ein Ende der Aussetzung sei »nicht nachvollziehbar, weil jetzt viele Unternehmen, die sich bisher tapfer durch die Krise gekämpft haben, Insolvenz anmelden müssen, nur weil staatliche Hilfen noch nicht ausbezahlt sind«, erklärte Fechner.
Tausende Jobs stünden auf dem Spiel, so der Genosse. Wer diese Unternehmen als Zombies bezeichne, der handele »zynisch«. Fechner erinnerte an die warnenden Stimmen von Wirtschaftsverbänden wie Dehoga und HDE, dass viele ihrer Mitglieder die staatlichen Hilfen noch nicht erhalten hätten. Damit setzte Fechner eine Spitze gegen Altmaier und dessen aus Sicht der SPD zu langsam verteilte Corona-Gelder. Um zwei Monate solle man die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht verlängern.
Doch die Union ließ das Ultimatum der SPD verstreichen. »Wir wollen die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht verlängern, rechnen aber nicht mehr mit der Zustimmung der Union«, sagte Fechner dem SPIEGEL. Am Dienstag habe ihm die Union mitgeteilt, prüfen zu wollen, nach welchen Kriterien der Kreis der betroffenen Unternehmen sich ergebe. »Das ist ein scheinheiliges Ablenkungsmanöver, denn genau diese Kriterien und den Kreis der Unternehmen haben wir in langen Beratungen mit der Union in genau jenem Insolvenzaussetzungsgesetz geregelt, das wir jetzt um zwei Monate verlängern wollten«, so Fechner.
Die Union argumentiert, dass die Insolvenzantragspflicht bei drohender Zahlungsunfähigkeit schon seit Monaten wieder für die allergrößte Zahl der Unternehmen gelte – und dennoch wenig Insolvenzanträge gestellt werden. Ausgesetzt sei sie ohnehin nur noch für diejenigen, die noch nicht in den Genuss der Staatsunterstützung gekommen seien.
Banken kündigen oft Darlehen, Lieferanten stellen ihre Konditionen auf Vorkasse um. [Prof. Dr. Lucas Flöther, Insolvenzverwalter]
Insolvenzverwalter wie Detlef Specovius halten das Chaos bei der Antragspflicht für hausgemacht. »Inzwischen«, sagt der Spezialist, der beispielsweise die Restrukturierung des Mode-Filialisten Esprit betreute, »blickt kaum ein Geschäftsführer mehr durch, ob er jetzt seine drohende Pleite anmelden muss oder nicht.«
»Sturm im Wasserglas«
Lucas Flöther, Insolvenzverwalter und Sanierungsexperte (»Air Berlin«, »Condor«, »Mäc Geiz«) hält die Debatte über eine weitere Aussetzung der Anmeldepflicht für »einen Sturm im Wasserglas«. Es sei eine weit verbreitete Mär, dass man bisher keine Insolvenz hätte anmelden müssen. »Die Regeln sind schon längst wieder scharf geschaltet worden. Jetzt geht es gerade noch um eine kleine Anzahl an Unternehmen«, sagt Flöther. Er hält es für durchaus sinnvoll, dass Unternehmen, die auf staatliche Überbrückungshilfen warten, auch weiterhin keine Insolvenz anmelden müssen. »Das Wirtschaftsministerium macht es solchen Unternehmen nicht einfach. Manche Firmen warten wegen teils massiver Verzögerungen seit Monaten auf die Auszahlung«, sagt Flöther. Zwar könnten die Unternehmen zunächst einen Insolvenzantrag einreichen und diesen dann zurücknehmen. So ein Antrag sei aber in gewisser Weise ein »Point of No Return«. »Banken kündigen dann oft Darlehen, Lieferanten stellen ihre Konditionen auf Vorkasse um«, sagt Flöther.
Die SPD dringt daher nun auf eine Verlängerung dieser Ausnahme – obschon es mittlerweile kaum noch Firmen geben dürfte, die bislang keinerlei Hilfszahlungen der Bundesregierung erhalten haben, obwohl ihnen diese zustünden. Für Insolvenzverwalter Specovius ein Irrsinn. Zwar rechnet er nicht mit der von den Sozialdemokraten befürchteten großen Pleitewelle, dafür aber mit späteren Verwerfungen.
Die könnten auftreten, wenn Geschäftsführer in einigen Wochen doch noch feststellen, dass ihr Unternehmen nicht wieder so anläuft wie vor der Pandemie – und der herbeigerufene Insolvenzverwalter oder Restrukturierungsexperte daraufhin feststellt, dass man schon vor Monaten die eigene drohende Pleite hätte anzeigen müssen. Schlicht weil die Ausnahmeregel nicht griff. »In diesem Fall hat sich der Geschäftsführer der Insolvenzverschleppung strafbar gemacht. Ob er die komplizierte Regelung nun verstanden hat oder nicht«, sagt Specovius. Auch Steuerberater könnten in solchen Fällen mitverantwortlich sein. Unwissenheit würde in diesem Fall also nicht vor Strafe schützen.