IT, Marketing, Produktkommunikation

First time right: Management von Materialstammdaten bei SCHOTT

100.000 Materialien, 10.000 Requests zum Anlegen, Ändern, Erweitern und Löschen von Stammdaten pro Jahr, 100 Nutzer weltweit in zwei Systemsprachen (Deutsch/Englisch), 20 verschiedene Prozesse, Durchlaufzeit für diese Prozesse von weniger als zwei Tagen — so sieht das Stammdatenmanagement bei der SCHOTT AG in der Business Unit Tubing in nackten Zahlen aus. »Tubing«, eine von sieben Units, war der erste Unternehmensbereich, der ein Stammdatenmanagement-Projekt durchgeführt und eine professionelle Lösung eingeführt hat.

 

SCHOTT, 1884 in Jena gegründet, ist einer der weltweit führenden Hersteller von Spezialglas, Glaskeramik und anderer innovativer Materialien. Das Unternehmen mit Produktions- und Vertriebseinheiten in über 30 Ländern in Europa, den USA, Asien und Südamerika ist weltweit Partner für Hightech-Branchen wie Gesundheit, Hausgeräte und Wohnen, Consumer Electronics, Halbleiter und Datenkommunikation, Optik, Industrie und Energie, Automotive, Astronomie sowie Luft- und Raumfahrt. Im Geschäftsjahr 2023 erzielten rund 17.100 Mitarbeiter einen Umsatz von 2,9 Milliarden Euro. Die SCHOTT AG gehört der Carl-Zeiss-Stiftung, einer der ältesten Stiftungen in Deutschland.

Das Stammdatenmanagement fungiert nach dem Verständnis von SCHOTT als Befähiger oder Wegbereiter der digitalen Transformation. Grundlage für das Master Data Management (MDM) ist das »MDM-Framework« (s. folgende Abbildung).

 

Ausgangssituation bei SCHOTT

Für Materialstammdaten hatte SCHOTT ursprünglich eine Eigenentwicklung im Einsatz, die von der hauseigenen IT weiterentwickelt wurde. »Mit Blick auf eine neue Lösung wollten wir auch eigene Ideen zur Verbesserung der Stammdatenqualität realisieren. Schwerpunkt dabei war die Etablierung des Themas ›Regelwerke‹, so dass Daten automatisch generiert und Eingaben, die in einem Zusammenhang stehen, auch validiert werden können«, erläutert Johannes Schön, Leiter der Abteilung Global Master Data & Business Process Management in der Business Unit Tubing, die Beweggründe für das Stammdatenprojekt. »Es ging uns darum, schneller zu werden und Daten hundertprozentig korrekt und vollständig — da regelbasiert — zu erzeugen.« Das ursprüngliche System arbeitete nicht regelbasiert, sondern es wurden Kopien von Vorlagen erstellt und manuell geändert. Dabei lag das geballte Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter vor, unzählige Dokumente und Vorgaben mussten bei der Anlage berücksichtigt werden, die komplexen Zusammenhänge waren nicht IT-gestützt und daher fehleranfällig.

Über die Regelwerke hinaus sollten neue Prozesse abgebildet werden. SCHOTT hatte nur die Fertigprodukte im bisherigen Workflowsystem abgebildet, nicht die Zukaufteile. Wichtig war auch ein künftig globaler Fokus; Tubing hat fünf Produktionsstandorte und diverse Sales Offices. »Unser Ziel war, die lokalen Prozesse zu harmonisieren und weltweit zu standardisieren, das heißt, das Thema MDM zentral zu managen, um am Ende einheitliche Stammdaten in allen Werken zu erhalten«, so Schön.

Einer der Haupttreiber für das Projekt war die Digitalisierung in der Produktion (Industrie 4.0). Dabei wurde sehr schnell deutlich: Der Erfolg der digitalen Transformation steht und fällt mit der Datenqualität. Sind die Stammdaten nicht konsistent, funktionieren auch die Prozesse nicht. Daher das Prinzip »first time right« — also von Beginn an fehlerfreie Stammdaten — um letztendlich auch die Kosten für die Stammdatenpflege zu reduzieren.

Die interne Anforderungsanalyse und die Frage »make or buy« ergaben, sich für eine am Markt verfügbare Standardlösung zu entscheiden. Nicht zuletzt um den internen Aufwand für eine »Nachprogrammierung« dessen, was bereits am Markt vorhanden war, zu sparen. Auch um künftige Entwicklungen wie die Einbindung von KI oder Umstieg auf UI5-Oberflächen (»Fiori-App«) mit mobiler Anwendung muss sich SCHOTT nicht selbst kümmern, die neuen Releases liefern das mit. Außerdem sollte es eine Multi-Domain-Lösung sein, die neben dem Materialstamm auch weitere Domänen wie beispielsweise Businesspartner (Kunden und Lieferanten) abbilden kann.

 

Datenqualität bei SCHOTT

Schön macht keinen Hehl daraus, dass unzureichende Datenqualität durchaus auch ein Thema vor der Einführung der neuen Stammdatenlösung war. Insbesondere das Berechtigungskonzept im ERP-System erwies sich als problematisch. Ein Material anlegen, vor allem aber ändern, das konnte nahezu jeder Nutzer weltweit. Nicht selten wurde diese Möglichkeit auch ausgeschöpft. Die Folge: Global gültige Stammdaten wurden immer wieder für lokale Zwecke verändert, dies führte zu Störungen in anderen Werken. Durch die dezentrale Anlage entstanden oftmals auch Dubletten, die mit hohem Koordinationsaufwand wieder beseitigt werden mussten.

»In einem mehrjährigen Projekt zur Prozessoptimierung ging es zum Großteil nur um Stammdatenbereinigungen, Materialstämme, Stücklisten, Arbeitspläne etc. Der Hintergrund: Liefertermine konnten immer weniger gut eingehalten werden, es gab zum Teil starke Differenzen zwischen berechneten System- und den tatsächlichen Durchlaufzeiten. Die Datenqualität passte an etlichen Stellen einfach nicht«, berichtet Schön. Drei Jahre sei versucht worden, diese wieder auf ein Top-Level zu heben — mit dem Ergebnis der aus der Stammdaten-Literatur bekannten Sägezahnkurve.

 

 

SCHOTT wollte natürlich auf dem erreichten hohen Datenqualitäts-Level bleiben, und dazu war es notwendig, die Berechtigungsproblematik in den Griff zu bekommen. Künftig sollte mit Anträgen (Requests) gearbeitet werden. Das war dann auch eine der Anforderungen an ein neues System, um vor allem Änderungen besser dokumentieren zu können. Heute können nur noch »Berechtigte« Änderungsanträge stellen, die kontrolliert und nach dem Vier-Augen-Prinzip freigegeben werden. Dadurch hat SCHOTT eine Data Governance etabliert. Die ERP-Berechtigungen wurden gesperrt, die Nutzer müssen die neue MDM-Lösung nutzen. So ist SCHOTT in der Lage, die Datenqualität dauerhaft hochzuhalten. Johannes Schön zur Umstellung der Data Governance auf Requests: »Das war wichtig, aber kein leichtes Thema. Es erfordert ein begleitendes Change-Management mit einem gemeinsamen Commitment aller Stakeholder. Für uns war entscheidend, die in einem MDM-Prozess notwendigen Rollen neu zu definieren und je Abteilung mit geschulten Mitarbeitern zu besetzen.«

Über das Berechtigungskonzept hinaus hilft das Regelwerk, die Datenqualität zu sichern. Beispielhaft zeigen dies die »Fertigungstexte« für den digitalen Fertigungsauftrag, für die ein umfangreicher Katalog von Excel-Regeln (wenn-dann) vorlag. Die waren zwar etabliert, aber nicht im System verankert. Das machte die Befolgung der Regeln fehleranfällig. Die neue Lösung sorgt mit der sogenannten Smart-Data-Engine dafür, dass jetzt »das System« die Regeln befolgt und die Texte automatisch einstellt oder darauf hinweist, wenn Attribute nicht zueinander passen. »Damit die digitalisierte Fertigungslinie störungsfrei läuft, müssen wir sie mit hundertprozentiger Datenqualität versorgen«, betont Schön. »Wenn wir nur 90 Prozent erreichen, führen die restlichen zehn Prozent nicht nur zu unnötigen Verzögerungen, sie untergraben auch das Vertrauen in die gesamte Datenbasis. Durch die regelbasierte, automatisierte Datenpflege bekommen wir neben der gewünschten Qualität auch mehr Geschwindigkeit in die Pflegeprozesse und können neue Produkte schneller in die Fertigung bringen.«

Nach Einführung der neuen Softwarelösung ist die Datenqualität bei SCHOTT Tubing heute sehr gut. Das bestätigt unter anderem auch die interne IT. SCHOTT ist 2021 auf S/4HANA umgestiegen. Bei diesem Migrationsprojekt hat sich gezeigt: Je besser die Datenqualität, desto leichter fällt die Migration. Für die BU »Tubing« war die Migration ein Beleg für die gute Qualität der Stammdaten.

 

Materialanlage bei SCHOTT Tubing

Bei der Materialanlage sorgen heute im System hinterlegte Regeln für eine hohe Automatisierung (plus Schnelligkeit) und hohe Datenqualität. Das geschieht von zwei Seiten:

  • zum einen durch Smart Data-Regeln: Sie erzeugen und befüllen Daten automatisch, arbeiten nach dem Prinzip »if–then« und ermöglichen die Digitalisierung der MDM-Guidelines.
  • zum anderen durch Validierungsregeln: Sie prüfen manuell eingegebene Daten und messen die Datenqualität; das Data Quality Dashboard visualisiert den aktuellen Zustand.

»Beides zusammen — hohe Automatisierung von Dateneingaben plus Validierung der manuell eingegebenen Daten — führt zum Ziel: schnelle Pflegeprozesse bei 100 Prozent Datenqualität. So können wir unserem Anspruch ›first time right‹ gerecht werden«, sagt Schön. Beispielsweise können Default-Werte für die verschiedenen Organisationsebenen (Werke, Lagerorte, Vertriebswege etc.) sofort bei der Anlage gesetzt oder Gewichte und Maße anhand von Formeln berechnet und geprüft werden.

Ergebnisse aus Validierungsregeln können als grafisches Dashboard dargestellt und regelmäßig ausgewertet werden; dabei können unter anderem fehlerhafte Materialnummern identifiziert und direkt bearbeitet werden. Darüber hinaus werden für das Monitoring die Durchlaufzeiten je Prozess und auch je Schritt in einem Prozess ausgewertet; das musste früher aufwendig mit Excel bearbeitet werden. Wochenenden und Feiertage — vordem manuell herauszurechnen — werden entsprechend berücksichtigt. Mit diesen auf Knopfdruck verfügbaren Kennzahlen können die »Bottlenecks«, das heißt, die Prozessschritte beziehungsweise Abteilungen mit aktuellen Engpässen innerhalb eines Prozesses, schnell identifiziert werden.

 

Nutzen

Was bringt eine professionelle Stammdatenlösung? »Die Quantifizierbarkeit des Nutzens ist ein schwieriges Thema, auch in den Gesprächen mit dem Management«, kommentiert Schön. Gerade bei der Digitalisierung der Fertigung erkenne man, wie groß die Bedeutung von korrekten Daten im Allgemeinen und von vollständigen und konsistenten Produktstammdaten im Besonderen sei.

Stammdaten bilden das Fundament, auf dem digitale Prozesse überhaupt erst aufgebaut werden können. Ein Materialstamm wird in sämtlichen Kernprozessen in einem Unternehmen verwendet. Das beginnt beim Einkauf (bei der Beschaffung der Zukaufteile), geht weiter beim Vertrieb (Kundenanfragen und -bestellungen, Auftragsbestätigungen) bis hin zur Fertigung und zum Versand. In allen Prozessen finden sich die Stammdaten wieder. Sind diese nicht einwandfrei, hakt es bei den Abläufen, es kommt zu Verzögerungen — am Ende auch beim Kunden. Laut Schön lässt sich das nur schwer quantifizieren und in Euro bewerten, über (ungenaue) Schätzwerte kommt man kaum hinaus.

Grob quantifizieren kann man allerdings die Prozesskosten für die Stammdatenpflege an sich: SCHOTT legt pro Jahr ca. 50.000 Materialstammdaten-Sätze neu an. In einer Prozesskostenanalyse wurde ermittelt, wie viel Zeit durchschnittlich für die Anlage eines Materialstamms benötigt wird und was das kostet. Grob gesagt sind es 50 Euro pro Materialstammsatz. Bei 50.000 Neuanlagen belaufen sich die jährlichen Kosten also auf rund 2,5 Millionen Euro. »Wenn sich der Aufwand für die Materialanlage durch optimale Prozesse und automatisierte Datenpflege um 20, 30, vielleicht sogar 50 Prozent reduzieren lässt, reden wir schnell über 1 Million Euro«, so Schön. Und das beziehe sich nur auf die Datenanlage/-pflege. Die Kosten, die durch Störungen aufgrund von mangelhaften Stammdaten hervorgerufen werden, seien da noch nicht berücksichtigt.

 

Lessons Learned

Unternehmen, die sich mit dem Gedanken tragen, ein vergleichbares MDM-Projekt aufzusetzen, sollten für eine gute Vorbereitung Sorge tragen und sich anhand eines Fragenkatalogs mit den Dimensionen des eigenen Stammdatenmanagements auseinandersetzen; so wie es SCHOTT Tubing mit Blick auf die sieben Perspektiven des MDM-Frameworks getan hat. Vor der abschließenden Entscheidung für eine Softwarelösung sollte im Rahmen eines »Proof of Concept« des Systems vor Projektstart geklärt werden, ob die angepeilte Lösung zu den eigenen Systemen und Prozessen passt.

Ist die Entscheidung gefallen und das Projekt wird auf den Weg gebracht, kommt es darauf an, frühzeitig die Funktionen der Softwarelösung kennenzulernen (z.B. in Admin-Schulungen), um sie konzeptionell berücksichtigen zu können. Mit Blick auf die Veränderungen, die eine professionelle Stammdatensoftware mit sich bringt — etwa die Umstellung der Data Governance auf Requests hinterlegt mit einem restriktiven Berechtigungskonzept — müssen die betroffenen Abteilungen frühzeitig eingebunden und ein Change-Management berücksichtigt werden.

Bei der Projektplanung sollte von vornherein ausreichend Zeit eingeplant werden — nicht zuletzt wegen der gewöhnlich aufwändigen Testphasen. Bei der Implementierung sollte nicht »alles auf einmal« eingeführt werden, vielmehr hat es sich als hilfreich erwiesen, die Einführung in verschiedene Phasen zu unterteilen. Darüber hinaus ist es nützlich, mit einem einfachen Prozess zu beginnen, der schnell in die Tat umgesetzt werden kann (»quick win«), um Erfahrung zu sammeln, wie das System funktioniert. Ein großer »Big Bang« am Ende ist nicht zu empfehlen, besser ist es, den Go-live in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten zu planen, beispielsweise nach Materialarten getrennt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die zeitgleiche Einführung an mehreren Standorten weltweit in unterschiedlichen Sprachen — der Normalfall in vielen international agierenden Unternehmen — durch den Schulungsaufwand und das erforderliche Change-Management sehr aufwändig ist.

Zu betonen ist auch die Wichtigkeit eines sorgfältig zusammengestellten Teams. Die Kombination aus Erfahrung, die Vielfalt in verschiedenen Rollen und die Innovationskraft für die Entwicklung kreativer Lösungen ermöglicht eine umfassende Herangehensweise. Eine regelmäßige Kommunikation mit Stakeholdern ist dabei entscheidend, um sicherzustellen, dass die Projektziele im Einklang mit den Erwartungen und Anforderungen stehen. Ein gut ausbalanciertes Projektteam legt somit den Grundstein für eine erfolgreiche Umsetzung und den nachhaltigen Projekterfolg.

 

Quelle: manage it >>