Warum vielen deutschen Unternehmen die Pleite droht
3. Die Grenzen der Staatshilfe
Eine Art Vorbild für den Schutzschirm ist das Insolvenzverfahren nach Chapter 11 in den USA. Delta Airlines beendete das Verfahren 2007 mit 50 Prozent weniger Schulden, 6000 abgebauten Stellen und drei Milliarden Dollar an eingesparten Kosten pro Jahr. General Motors sanierte sich nach der Finanzkrise ebenfalls über Chapter 11.
Auch in den USA wird in den kommenden Monaten eine Welle von Insolvenzen erwartet. Die Einzelhändler Neiman Marcus, J. Crew, Dean & De Luca und JC Penney haben bereits Gläubigerschutz nach Chapter 11 beantragt, ebenso die Autovermietung Hertz. Viele könnten folgen.
Anders als Chapter 11 in den USA wurde das Schutzschirmverfahren in Deutschland über Jahre kaum angewandt. Das hat sich mit Corona geändert. In den seit März eröffneten Verfahren überwiegt dieser Weg des Insolvenzrechts. Er bietet den Unternehmen einige Vorteile.
Zum einen für die Darstellung nach außen: „Klingt der Begriff des Insolvenzverfahrens in der deutschen Meinungslandschaft doch allzu sehr nach Zerschlagung oder Auflösung, so fällt es den Unternehmen in der Außenkommunikation scheinbar leichter, den Begriff des ,Schutzschirms‘ zu kommunizieren“, sagt Rechtsanwalt Dirk Obermüller, Partner beim Bonner Beratungsunternehmen DHPG. Letztlich sei aber auch der Schutzschirm ein Insolvenzverfahren, für das beim Insolvenzgericht ein Antrag gestellt werden müsse.
Wichtiger als die Kommunikation dürfte für viele Unternehmer sein, dass sie mit dem Schutzschirm viele Freiheiten behalten. Der Geschäftsbetrieb wird ohne größere Einschränkungen fortgeführt. Binnen drei Monaten muss mit externen Experten ein Sanierungsplan erarbeitet werden. In dieser Phase hat das Unternehmen Sonderrechte, etwa was Vertragskündigungen angeht. Damit kann auf Gläubiger, Vermieter und Lieferanten Druck ausgeübt werden, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen.
Gelingt die Sanierung, kann die Firma den Insolvenzantrag zurückziehen. Ansonsten ist der unter dem Schutzschirm erstellte Sanierungsplan Grundlage für das dann folgende Insolvenzverfahren in Eigenregie.
Den Schutzschirm können aber nicht alle angeschlagenen Unternehmen nutzen. Ein Fachmann muss bescheinigen, dass eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung droht, aber nicht vorliegt. Experten befürchten, dass im Herbst oder im kommenden Jahr viele Unternehmen finanziell mit dem Rücken an der Wand stehen – und es dann zu spät für den Schutzschirm sein könnte, weil Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten sind.
Zumal die Probleme vieler Unternehmen mit dem Ende der akuten Coronakrise nicht verschwinden. Berater gehen davon aus, dass der Wettbewerb in vielen Branchen nach der Pandemie wesentlich härter sein wird.
„Viele Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell grundlegend überdenken und adaptieren“, sagt Euler-Hermes-Deutschlandchef van het Hof. „Das müssen sie erst einmal finanzieren, dazu brauchen sie Margen und eine Lösung für die Restrukturierungen ihrer Schuldenberge.“ Zusammen mit der digitalen Transformation seien dies die Variablen, die über die weitere Entwicklung der Insolvenzzahlen entschieden.
Gerade wegen der Schulden fürchten auch Unternehmensverbände und Wirtschaftspolitiker einen Anstieg der Insolvenzen ab dem Herbst. Denn die Verbindlichkeiten der Firmen sind durch Staatskredite in die Höhe geschnellt. Mittlerweile haben fast 76.000 Firmen und Selbstständige allein bei der staatlichen Förderbank KfW Anträge im Volumen von gut 50 Milliarden Euro gestellt. Fast 73.000 sind bereits genehmigt.
Die KfW betont, dass nur solche Firmen Hilfskredite erhalten, die nachweislich erst wegen der Coronakrise in Schwierigkeiten geraten sind. Das ist eine EU-Auflage. Doch während die Hausbanken Anträge für normale Coronakredite gründlich prüfen, gibt es beim KfW-Schnellkredit, bei dem der Staat für Summen von bis zu 800.000 Euro zu 100 Prozent haftet, nur eine sehr rudimentäre Prüfung durch die Hausbank.
Damit wollte die Bundesregierung gefährdeten Unternehmen einen möglichst raschen Weg zu Hilfen ebnen. Er rechne damit, dass jedes zehnte dieser Darlehen ausfallen werde, sagte ein Banker, der nicht genannt werden wollte. Das wäre eine etwa zehnmal so hohe Ausfallrate wie sonst im deutschen Kreditgeschäft üblich.
Nach einem regelrechten Run auf die KfW-Mittel hat die Nachfrage mittlerweile nachgelassen. „Insbesondere die größeren Firmen haben sich frühzeitig zusätzliche Liquidität gesichert, die kleineren Firmen sind tendenziell etwas später auf uns zugekommen und haben zum Teil erst einmal abgewartet“, sagt Andreas Wagner, Leiter des Förderkreditgeschäfts bei der Hypo-Vereinsbank.
In die Kritik gerät beim Thema Insolvenzrecht momentan vor allem das geltende Kriterium der Überschuldung. Die liegt dann vor, wenn die Verbindlichkeiten das Vermögen übersteigen. Die Geschäftsführung muss dann binnen drei Wochen Insolvenzantrag stellen, sonst macht sie sich wegen Verschleppung strafbar.
In diese prekäre Lage könnten Firmen kommen, die Corona-Hilfskredite erhalten haben, aber deren Geschäft noch nicht wieder läuft. Einhellig wird daher gefordert, die Überschuldung als Insolvenzgrund abzuschaffen und nur noch die Zahlungsfähigkeit heranzuziehen. „So könnten Insolvenzen jedenfalls einiger von im Kern gesunden Unternehmen vermieden werden“, sagt Familienunternehmer-Präsident Eben-Worlée.
Helfen könnte nach Ansicht von Steuerexperten auch ein ausgeweiteter Verlustrücktrag, mit dem Verluste im Geschäftsjahr 2020 mit Gewinnen aus vergangenen Jahren verrechnet werden könnten. Dadurch sinkt die Steuerlast von Unternehmen, die erst durch Corona in die roten Zahlen gerutscht sind.
In den USA hat die Regierung für die Krisenzeit den Verlustrücktrag auf fünf Jahre ausgedehnt und die Mindestbesteuerung ausgesetzt, wodurch die Verluste voll geltend gemacht werden können. Diesem Beispiel, meint Steuerexperte Wilhelm Haarmann, sollte die Bundesregierung folgen.
Nun hat sich der Berliner Politikbetrieb allerdings in die Sommerpause verabschiedet, ohne dass in Sachen neues Insolvenz- und Sanierungsrecht der große Wurf gelungen ist. Der CDU-Wirtschaftsrat schlug Alarm und verlangte etwa, „dass die EU-Restrukturierungsrichtlinie nun schnellstmöglich und nicht erst 2021 umgesetzt wird“.
Die Richtlinie sieht vor, dass kriselnde Firmen die Möglichkeit bekommen müssen, sich außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zu sanieren. Ein formelles Insolvenzverfahren, wie es letztlich auch unter einem Schutzschirm der Fall ist, würde so verhindert.
Insolvenzverwalter Flöther geht davon aus, dass die Bundesregierung hier eine „große Lösung“ anbieten wird. Das Anfang Juni vorgelegte Koalitionsausschuss-Papier zu Corona lasse erkennen, dass die Brüsseler Vorgaben mit den Herausforderungen durch Covid-19 verbunden würden. Insolvenzexperten erwarten nicht nur die Umsetzung der EU-Richtlinie, sondern eine Neudefinition des umstrittenen Überschuldungsbegriffs und eine Reform des ESUG.
4. Jagd auf „Distressed Equity“
Während Unternehmensverbände und Gesetzgeber noch darum ringen, wie sich möglichst viele Insolvenzen abwenden lassen, geht eine ganz spezielle Branche auf Schnäppchensuche. „Distressed M & A“ nennt sich das Geschäft mit dem Kauf und Verkauf von angeschlagenen Unternehmen. Insbesondere Private-Equity-Fonds rüsten sich für die herbstliche Jagdsaison.
Die Finanzinvestoren haben sich in der Coronakrise bislang zurückgehalten mit neuen Firmenkäufen. Sie lauern auf Notverkäufe und niedrigere Preise, doch allzu lange können sie nicht mehr warten. Laut Informationsdienst Prequin sitzen die Beteiligungsmanager auf nicht investiertem Kapital von 1,48 Billionen Dollar weltweit.
„Die Private-Equity-Fonds werden tendenziell größer, das nicht investierte Kapital erhöht gleichzeitig den Anlagedruck“, sagt Joachim Ringer, Co-Leiter Investment Banking and Capital Markets Deutschland und Österreich bei der Credit Suisse. Finanzinvestoren suchten intensiv nach Gelegenheiten, so Ringer. „Aber es ist schwer, günstig bewertete Targets zu identifizieren, gerade unter den börsennotierten Gesellschaften.“
Das dürfte sich im Herbst und Winter ändern. „Auf Deutschland rollt im zweiten Halbjahr die größte Insolvenzwelle der Nachkriegsgeschichte zu. Typischerweise überleben finanziell angeschlagene Firmen noch einige Monate nach dem Einsetzen einer Krise, um dann vielfach in die Insolvenz zu schlittern“, erklärt ein Frankfurter Investmentbanker. Es werde in den nächsten sechs Monaten vor allem darum gehen, durch Notverkäufe zu retten, was noch zu retten ist.
Für Firmenjäger bringt die anrollende Pleitewelle günstige Kaufgelegenheiten, für Unternehmer und ihre Angestellten bedeutet sie vielfach eine persönliche Tragödie. Doch die Pflicht zum Insolvenzantrag lässt sich in einer Marktwirtschaft nicht unbegrenzt aussetzen.
Schließlich geht es im Insolvenzrecht auch darum, die Ansprüche von Kunden und Gläubigern zu sichern. Und je stärker die Hilfen für Unternehmen ausgeweitet und verlängert werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Firmen unter die vermeintlichen Corona-Opfer mischen, die auch vor dem Lockdown kaum überlebensfähig waren.
„Es ist nun einmal schwierig, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen ‚wir retten jeden‘ und ‚wir retten niemanden‘“, sagt Hans-Werner Sinn. Der ehemalige Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) fürchtet: „Inzwischen hat der Staat des Guten zu viel getan. Das viele Geld veranlasst viele Unternehmen und Firmen, sich erst einmal auszuruhen, anstatt um die Kunden zu kämpfen.“
Davon kann beim insolventen Autozulieferer Dieckerhoff laut Geschäftsführer Arnold keine Rede sein. Er verspricht: „Qualität, Termin- und Liefertreue sind nach wie vor unser höchstes Gut. Daran wird sich nichts ändern.“
Mitarbeit: H. Anger, A. Dörner, D. Fockenbrock, P. Köhler, D. Neuerer, Y. Osman