Finanzwesen

„Weckruf“ von Roland Berger : Diese Branchen stehen jetzt im Fokus von Sanierungsexperten

Fachkräftemangel, Inflation, Käuferstreik: Eine neue Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zeigt, wie Sanierungsexperten den Zustand der deutschen Wirtschaft bewerten – und in welchen Branchen es jetzt eng wird.

 

Der „Economist“ brachte es auf den Punkt: „Ist Deutschland erneut der kranke Mann Europas?“, fragte das britische Magazin vor kurzem und zeigte – als Seitenhieb auf die Regierungskoalition in Berlin – ein Ampelmännchen, das am Tropf hängt. Tatsächlich lahmt die deutsche Wirtschaft: die hohe Inflation macht den Unternehmen ebenso zu schaffen, wie der stockende Konsum. Der Arbeitsmarkt bröckelt und auch die Zahl der Insolvenzen steigt wieder.

So meldeten mit dem Spielwarenhändler Haba, dem Dachboxenspezialist Kamei oder Immobilienentwicklern wie Gerch, Centrum und Project in den vergangenen Wochen gleich mehrere bekannte Unternehmen Insolvenz an. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes lag die Zahl der beantragten Regelinsolvenzverfahren im August des laufenden Jahres insgesamt um 13,8 Prozent über dem Wert des Vorjahresmonats. 

Also, Krise voraus? Müssen sich Deutschlands Unternehmer und Manager in den nächsten Monaten auf eine Abwärtsfahrt einstellen – wo lauern die größten Risiken und in welchen Branchen ist der Sanierungsbedarf am größten?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die diesjährige Restrukturierungsstudie von Roland Berger, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt. Schon seit 2001 beleuchten Experten der Beratungsgesellschaft Trends und Entwicklungen im Sanierungsgeschäft. In diesem Jahr wurden dafür rund 650 Restrukturierer befragt. Vier Fünftel der Teilnehmer stammen aus dem Bankwesen, der Sanierungsberatung oder der Insolvenzverwaltung. 

 

Eine „Pessimismuswelle“ breitet sich aus

Die Ergebnisse fallen ernüchternd aus: „Es reift die Befürchtung, Deutschland könnte im internationalen Vergleich abfallen“, heißt es in der Studie. Rund drei Viertel der befragten Fachleute gehen demnach von einer Stagnation oder einem Rückgang der Wirtschaftsleistung aus. Unter den Restrukturierungsexperten habe sich „eine deutliche Pessimismuswelle“ ausgebreitet. 

Kein Wunder: „Die Umfeldindikatoren für die deutsche Wirtschaft haben sich eingetrübt“, konstatiert Gerd Sievers, Co-Leiter der Plattform Restructuring, Performance & Transaction bei Roland Berger. „Die Konjunktur schwächelt, die Konsumenten halten sich zurück und insgesamt fehlt die Perspektive für neue Wachstumsimpulse“, sagt Sievers. Das bestätigt auch sein Kollege Sascha Haghani, Leiter des globalen Restrukturierungsgeschäfts bei Roland Berger. „Die sich bereits in den vergangenen Jahren abzeichnende herausfordernde Wirtschaftslage spitzt sich weiter zu: Das betrifft den Fachkräftemangel ebenso wie die weiterhin hohe Inflation – und bedeutet damit eine steigende Kostenbelastung für Unternehmen“, so Haghani. 

Tatsächlich ist der Fachkräftemangel für die befragten Experten der derzeit größte Risikofaktor für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Aber auch die hohen Energiepreise machten den Unternehmen weiter zu schaffen. Das könnte dazu führen, dass Unternehmen vermehrt Produktionsstandorte ins Ausland verlagern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Zusätzlich führe der Kurswechsel der Zentralbanken zur Bekämpfung der Inflation zu einer Belastung der Liquiditätssituation in den Unternehmen. Zinskosten steigen und der Zugang zu neuem Kapital wird erschwert. 

Angesichts der Vielzahl an Risiken und Problemen sehen 62 Prozent der Befragten „eine Restrukturierungswelle auf Deutschland zukommen.“ Viele Manager würden spüren, dass sie mit kleineren Kostenmaßnahmen nicht mehr weiterkommen. „Jetzt sind umfassendere Konzepte gefragt.“ Gleichwohl scheinen dafür in vielen Unternehmen die Kompetenzen und Kapazitäten zu fehlen. So schätzt ein Großteil der befragten Experten die Bereitschaft zur tiefgreifenden Veränderung im Management deutscher Unternehmen als gering ein. 

„Das dürfte auch daran liegen, dass in den vergangenen Jahren viel Krisenerfahrung verloren gegangen ist“, glaubt Haghani. Seit der Finanzkrise vor 15 Jahren habe es zwar immer wieder Sondersituationen wie die Corona-Pandemie oder das Lieferkettenchaos gegeben, aber ein „genereller Wirtschaftsabschwung ist für viele Manager schlicht eine neue Situation.“ Dabei könne nur ein erfahrener Seemann „den Wetterumschwung erkennen.“ 

 

Kosten- und Kapazitätsthemen auf der Agenda

Doch wo ist die See momentan besonders rau? Aus Sicht der Experten stehen vor allem vier Branchen im Fokus. Am größten ist der Restrukturierungsbedarf demnach weiterhin in der Automobilindustrie. Der bedeutendste Industriezweig des Landes habe in den vergangenen Jahren „eine Achterbahnfahrt mit Chipkrisen, Lieferproblemen und der Transformation zur E-Mobilität hinter sich“, sagt Roland-Berger-Partner Sievers. „Die Branche konnte aber zumindest darauf bauen, dass die Nachfrage der Verbraucher stabil blieb.“ Treten nun aber nachhaltige Nachfragerückgänge auf, „werden Kosten- und Kapazitätsthemen auf die Agenda kommen. „ 

Kaum besser bewerten die befragten Restrukturierer die Lage der Immobilien- und Baubranche. „In den letzten Jahren führten vor allem Lieferengpässe und explodierende Baumaterialpreise zu Verschiebungen oder Absagen von Bauprojekten – jetzt sind es die gestiegenen Zinsen und die konjunkturelle Unsicherheit“, sagt Haghani. „Das wird auch Folgen für den Wohnungsbau haben.“ Und es droht eine Abwärtsspirale: So hätten steigende Zinsen und sinkende Immobilienpreise eine Reduktion des Beleihungswertes von Immobilien zur Folge, „was wiederum dazu führt, dass Anschlussfinanzierungen nicht mehr zu bisherigen Konditionen vergeben werden können“, heißt es in der Studie. Angesichts dieser Veränderungen könnte es vermehrt zu Verkäufen kommen, die dazu dienen, frisches Kapital zu beschaffen. Das könnte wiederum zu einem Rückgang der Immobilienpreise führen. 

Auch im Einzelhandel und im Gesundheitswesen sehen die Sanierungsexperten anhaltende Probleme. So leidet der Handel vor allem unter der Kaufzurückhaltung der Kunden angesichts der hohen Inflation. Und das Gesundheitswesen bekommt den Fachkräftemangel – vor allem bei Pflegekräften – mit voller Wucht zu spüren. Über die Hälfte der Kliniken verzeichnete im vergangenen Jahr Verluste. „In den kommenden Jahren wird daher mit weiteren Schließungen von Kliniken gerechnet“, heißt es in der Studie. 

Bei Roland Berger sieht man die Ergebnisse der Befragung auch als eine Art „Weckruf“ – wohl auch und gerade für die Politik. „Aus Sicht der Unternehmen wäre es wichtig, dass die Politik verlässliche Rahmenbedingungen setzt“, sagt Sievers. Die Manager müssten wissen, womit sie rechnen können: Werden die Abschreibungsmöglichkeiten erweitert, kommt der Industriestrompreis?“

Kurzum: Die Herausforderungen für Europas größte Volkswirtschaft könnten größer kaum sein. Ein Fazit der Roland-Berger-Studie lautet jedenfalls: „Es ist höchste Zeit für einen Umbruch.“

 

 

Quelle: ©Wirtschaftswoche