Wer nicht arbeitslos werden will, braucht künftig mehr als eine Ausbildung
FOCUS online: Mit der Corona-Pandemie hat sich das mobile Arbeiten rasant beschleunigt. Werden wir in Zukunft überhaupt noch ins Büro gehen?
Ulf Rinne: Diesen Trend haben wir in den vergangenen Jahren stark gespürt, und er wird sich fortsetzen. Die Pandemie war hier sicherlich ein Katalysator. Aber dieser Trend betrifft nur einen Teil der Arbeitswelt. Gut die Hälfte der Beschäftigten kann im Homeoffice arbeiten, die andere Hälfte jedoch nicht. Sobald es Kundenkontakt gibt oder es sich um handwerkliche Tätigkeiten handelt, die an einem bestimmten Ort ausgeführt werden müssen, ist die örtliche Flexibilität stark eingeschränkt.
Die Künstliche Intelligenz stellt derzeit die Arbeitswelt auf den Kopf. Einige Menschen haben zunehmend Angst vor einem Jobverlust. Werden Digitalisierung und KI zu einer gewaltigen Krise der Erwerbsgesellschaft führen?
Rinne: Die Diskussion um ein „Ende der Arbeit“ begleitet uns seit Jahrzehnten. Aber ich bin insgesamt optimistisch: Denn wenn wir in die Vergangenheit blicken, sehen wir, dass technischer Fortschritt per Saldo immer zu einem Beschäftigungsplus geführt hat.
Auch wenn man noch nicht alle Konsequenzen von KI abschätzen kann, werden durch ihren Einsatz vor allem Routinetätigkeiten entfallen und sich das Tätigkeitspektrum innerhalb von Berufen wandeln. Natürlich werden vereinzelt auch ganze Berufe wegfallen, das war aber historisch schon immer der Fall. Die grundsätzliche Herausforderung wird sein, dass viele Menschen neue qualifikatorische Anforderungen erfüllen müssen.
Auch wenn der Fortschritt in der Vergangenheit am Ende immer mehr Jobs brachte – nicht jeder, dessen Job durch Maschinen obsolet geworden ist, hat doch auch einen der neuen Jobs bekommen.
Rinne: Ja, das stimmt. Aus einem Mechaniker wird nicht unbedingt in kürzester Zeit ein IT-Spezialist. Deswegen müssen wir darauf achten, dass kein Passungsproblem entsteht, also dass Menschen auch in Zukunft über die Qualifikationen für die Tätigkeiten verfügen, die nachgefragt werden.
Immer mehr Deutsche bilden sich weiter
Der jüngste Weiterbildungsbericht des Bildungsministeriums zeigt einen klaren Aufwärtstrend auf.
Dies ist allerdings ein Prozess. Automatisierung fällt nicht vom Himmel. Firmen können ihren Bedarf absehen und in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren. Zudem können Jobwechsel auch zwischen Branchen stattfinden, und das werden sie vielleicht auch müssen. Die vielleicht unangenehme Botschaft ist, dass künftig die berufliche Erstausbildung nicht mehr ein ganzes Erwerbsleben tragen wird.
Haben wir die Infrastruktur dafür, was Weiterbildungen und Umschulungen angeht?
Rinne: Der Weiterbildung haftet in Deutschland leider ein eher negatives Image an. Wenn man eine Weiterbildung absolviert, ist damit zu häufig der Gedanke verbunden, dass etwas falsch gelaufen ist. Das sollte sich ändern: Weiterbildung ist eine Investition in die eigene Karriere und mit einem beruflichen Fortkommen verbunden.
„Im transformativen Wandel steigen die Anforderungen an die berufliche Anpassungsfähigkeit. Deshalb ist es notwendig, die berufsbezogene Weiterbildung zu stärken. Der Fokus der Förderinstrumente sollte nicht allein auf die Weiterbeschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber gerichtet sein, denn die wird nicht immer möglich sein. Die Expertenkommission fordert daher erneut, Instrumente zu entwickeln und zu erproben, die den Beschäftigten den Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber erleichtern.“
– Gutachten zur Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands
Natürlich müssen Anstrengungen im Bereich der Weiterbildung auch von staatlicher Seite begleitet werden, denn dafür braucht es zeitliche und monetäre Ressourcen. Das gilt im Übrigen auch für unser Bildungssystem insgesamt. So ist das duale Ausbildungssystem eine große Stärke Deutschlands, weil hier sehr nah an den Bedarfen der Unternehmen ausgebildet wird. Darauf sollten wir auch in Zukunft bauen.
Denken Sie, dass technologischer Fortschritt eines Tages eine „Gesellschaft ohne Arbeit“ schaffen kann?
Rinne: Was ich sagen kann: Über einen längeren Zeitraum betrachtet geht die durchschnittliche Arbeitszeit kontinuierlich zurück. Wir arbeiten heute – im Schnitt – viel weniger als früher. Vor diesem Hintergrund sind auch die Debatten um die Vier-Tage-Woche einzuordnen.
Wichtig ist, dass technologischer Fortschritt die Produktivität steigert, und wir deshalb weniger arbeiten und trotzdem unseren Wohlstand mehren können. Damit verbunden ist aber die Debatte, wie diese Produktivitätsfortschritte künftig verteilt werden.
Das heißt, die alte Diskussion um das Verhältnis von Arbeit und Kapital wird wiederbelebt?
Rinne: Genau, entscheidend sind künftig die Besitzverhältnisse an Robotern und intelligenten Algorithmen, weil diese maßgeblich für Produktivität und Gewinne sind.
Sie haben bereits erwähnt, dass Digitalisierung und KI kaum zu einer gewaltigen Krise der Erwerbsgesellschaft führen werden. Zugleich suchen Betriebe derzeit händeringend nach Fachkräften. Welche Vorteile ergeben Sie daraus für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen?
Rinne: Die neu auf den Arbeitsmarkt eintretenden jüngeren Jahrgänge sind in einer starken Verhandlungsposition. Dabei spielt ihnen die Demografie in die Karten: Unternehmen müssen um sie kämpfen, weil sie knapp sind. Der Arbeitsmarkt wird so künftig noch mehr zu einem Bewerbermarkt, mit Vorteilen vor allem für junge Menschen mit gesuchten Qualifikationen. Sie können ihre Wünsche, insbesondere nach Flexibilität, deshalb viel besser durchsetzen als frühere Generationen.
Was bedeutet das für Unternehmen?
Rinne: Unternehmen müssen sich noch mehr Gedanken machen, wie sie im Wettbewerb um kluge Köpfe und helfende Hände punkten können. Natürlich geht es dabei auch um monetäre Anreize – eine gute Bezahlung ist weiterhin ein wichtiger Faktor, den auch junge Menschen wertschätzen. Aber wir sprechen außerdem über zeitliche und räumliche Flexibilität, mobiles und hybrides Arbeiten, die 4-Tage-Woche, Unternehmenskultur, Diversität, Nachhaltigkeit, flache Hierarchien, Vertrauen, Wertschätzung, Autonomie und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.
Diese Aspekte tragen zu einem attraktiven Gesamtpaket bei, und Unternehmen müssen sich hier positionieren. Klassische Handwerksbetriebe beispielsweise werden vielleicht eher materielle Anreize schaffen, als mit zeitlicher oder räumlicher Flexibilität zu punkten. Aber sie könnten auch durch eine ausprägte Unternehmenskultur und eine familiäre Arbeitsatmosphäre überzeugen.
Welche Rolle spielt die Politik, wenn es darum geht, eine Arbeitswelt zu schaffen, die künftig nicht nur Wohlstand für eine kleine Gruppe von Menschen schafft?
Rinne: Ich sehe die Aufgabe der Politik vor allem darin, weiterhin für einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeber und Beschäftigten zu sorgen. Es muss nach wie vor das Ziel sein, den Wohlstand in Deutschland zu sichern und soziale Ungleichheit zu mindern. Natürlich sind auch Arbeitgeber und Beschäftigte selbst gefordert, aber der Staat muss einen geeigneten Rahmen schaffen.
Wie sehen diese Rahmenbedingungen aus?
Rinne: Künftig wird es wichtig sein, dass es eine hohe Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit aller Akteure am Markt gibt. Und hier sehe ich ganz konkret zwei große Handlungsfelder: Erstens braucht es mehr Anstrengungen im Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsbereich. Lippenbekenntnisse sind nicht ausreichend, sondern Worten müssen endlich Taten folgen. So stehen etwa unsere Schulen und Berufsschulen nicht nur personell nicht gut da, sondern auch bei ihrer Ausstattung. Investitionen in die Digitalisierung von Schulen und Berufsschulen sind aber wichtige Investitionen in unsere Zukunft.
Zweitens braucht es bessere Rahmenbedingungen für vollzeitnahe Tätigkeiten. Es gibt nach wie vor viele Teilzeitbeschäftigte in Deutschland, die gerne mehr arbeiten würden, aber es nicht können – etwa, weil es für die Kinder keine Betreuungsangebote in ausreichender Qualität und Quantität gibt.
Außerdem sind die Rahmenbedingungen im Steuer- und Abgabensystem nicht ideal: Das Ehegattensplitting beispielsweise gehört aus meiner Sicht endgültig abgeschafft. Auch die Privilegien für geringfügige Beschäftigung sind zu hinterfragen. Denn Minijobs erweisen sich viel zu häufig als karriereschädliche Teilzeitfallen, also als Sackgasse und nicht als Sprungbrett für die Karriere.